Dienstag, 10. Mai 2016

Ein Kissen gegen das Vergessen - wenn Demenz das Leben verblassen lässt

Hapti Muff selbst genäht
Vor ein paar Monaten habe ich euch meinen selbst genähten Hapti Muff als Beschäftigung für Demenzkranke gezeigt. Er ist tatsächlich gut im Einsatz.

Über Demenz habe ich in der letzten Zeit viel gelesen.
Und trotzdem ist es für mich schwer verständlich, wie das Gehirn einfach so die kleinen und großen Dinge des Lebens ausblendet. Menschen, Orte, Situationen, die einen Platz in unserem Alltag haben, sind plötzlich verschwunden - ohne Ankündigung, ohne Erklärung.

Unseren Kindern habe wir das Thema Demenz mit dem wirklich tollen Film "Honig im Kopf" versucht zu erklären, aber wirklich verstehen können auch wir - kann auch ich - es nicht. Der Arzt in dem Film erklärt es sehr schön: "Unsere Erinnerungen sind wie Regale voller Bücher. Bei Demenzkranken fällt immer mal wieder eines dieser Bücher um. Dann kann dieser Mensch den Inhalt nicht mehr lesen und sich auch nicht mehr daran erinnern. Manchmal lässt sich das Buch wieder hinstellen und die Erinnerung kommt zurück. Aber im Laufe der Krankheit fallen immer mehr Bücher ganz aus dem Regal".

Wir können versuchen, es wissenschaftlich zu erklären. Aber wir können es weder nachvollziehen noch verstehen oder aufhalten. Für mich ist es sehr schwer, einen lieb gewonnenen Menschen auf diese Weise stückchenweise zu verlieren. Manchmal stelle ich mir allerdings die Frage, wer bei dieser Krankheit wen verliert. Wir "Gesunden", die wir dem Geschehen hilflos gegenüber stehen? Oder der Demenzkranke, der allerdings gar nicht weiß, dass er so viele Dinge nicht mehr weiß?

Trotzdem versuche ich - genauso wie viele Menschen in ähnlichen Situationen oder viele Ärzte und Pflegekräfte - den Lauf der Dinge zu beeinflussen, vielleicht ein wenig zu verlangsamen.
In vielen Ratgebern wird empfohlen, Demenzkranke an Situationen in ihrem Leben zu erinnern. So können Lieder, Geschichten oder Fotoalben dazu dienen, Erinnerungen wach zu halten oder das ein oder andere Buch für kurze Zeit im Regal wieder aufzustellen.
In diesem Sinne habe ich mich hingesetzt und Fotos aus dem Leben jener lieben Person zu suchen, um ihn an Situationen erinnern, die er (hoffentlich) sehr genossen hat. Da weder das Pflegepersonal noch besuchende Verwandte sich täglich hinsetzen, um mit Demenzpatienten Fotoalben anzusehen, habe ich mir eine andere Variante überlegt - mein Kissen gegen das Vergessen.
Ich habe ein Patchworkkissen aus 3 x 3 Teilen pro Kissenseite genäht. Auf jedes dieser Teile habe ich mit Bügeltransferfolie ein Foto gedruckt und mit Flockfolie beschriftet.

Patchwork-Kissen für Demenzkranke
(Fotos aus persönlichen Gründen unkenntlich gemacht)
Die Transferfolie hat mich dabei fast in den Wahnsinn getrieben. Zum einen ließ sie sich grauenhaft auf den Stoff übertragen, zum anderen hat sich das Transferpapier nach der Übertragung nicht ordentlich ablösen lassen. Beim Beschriften der Fotos mit Flockfolie hat sich die Bügelfolie der Fotos stellenweise gleich wieder mit gelöst. Von wirklich scharfen Fotos, die die Transferfolie auf das Kissen zaubert, brauchen wir auch nicht sprechen.

Zwischendurch war ich durch die semioptimale Umsetzung meiner Idee und irgendwie auch von der ganzen Entstehungsgeschichte des Kissens dermaßen gefrustet, dass ich mich gefragt habe, für wen ich das eigentlich tue? Für den Demenzkranken, der die Bilder möglicherweise nicht mehr erkennt oder versteht oder für mich? Um das Gefühl zu haben, etwas zu tun, auch wenn ich gegen die aktuelle Situation in Wahrheit so gar nichts tun kann? Um meine Ohnmacht und meine Traurigkeit in "Arbeit" zu ersticken und mir einzureden, ich hätte doch ...

Patchwork-Kissen gegen "das Vergessen"
(Fotos aus persönlichen Gründen unkenntlich gemacht)
Aber ist letztendlich nicht alles, was wir tun, nur eine Aneinanderreihung von Versuchen, die Welt ein wenig besser oder schöner zu machen? Wen interessiert es also, ob die Bilder auf dem Kissen gestochen scharf sind? Da der Empfänger des Kissens sowieso nicht mehr die volle Sehkraft besitzt, ist es völlig nebensächlich, welche Auflösung die Fotos haben. Je nach Tagesform wird er die Bilder erkennen - und damit meine ich nicht sehen, sondern in seinen Erinnerungen erkennen. An guten Tagen wird er mit dem, was er sieht oder liest, wissen, worum es sich handelt. An schlechten Tagen würden auch hochauflösendere Bilder keine Erinnerungen in ihm hervorrufen können.

Auf die Frage, für wen das Kissen nun ist, habe ich für mich eine Antwort gefunden. Es ist für uns alle. Für mich, um etwas hoffentlich Schönes für einen lieben Menschen getan zu haben. Für mich, um auch mir viele schöne gemeinsame Situationen wieder ins Gedächtnis zu rufen und ihn beim nächsten Besuch daran erinnern zu können. Für all seine Besucher im Pflegeheim - sei es Familie oder Bekannte - um auch ihnen die eine oder andere gemeinsame und schöne Situation wieder ins Gedächtnis zu rufen. Um Besucher - und auch Pflegekräfte - dazu zu animieren, ihn an schöne Stunden zu erinnern. Um sich gemeinsam mit ihm zu erinnern oder um ihn vielleicht zu ermuntern, im Zusammenhang mit dem ein oder anderen Foto etwas zu erzählen.
Und natürlich für ihn, um in guten Tagen zu erfreuen und um ihn an die schönen Dinge und Situationen im Leben zu erinnern.

Ein kleines Kissen im großen Kampf gegen das Vergessen. Bilder, die nicht nur in einem Buch im Regal stehen. Fotos, Situationen und Lebensereignisse mitten im Raum - immer an seiner Seite. Für jeden sichtbar und damit hoffentlich ein Anreiz für jeden, der den Raum betrifft durch einen Kommentar oder eine Frage zu dem Kissen oder dem einen oder anderen Foto, den Kampf gegen des Vergessen ein Stückchen mitzuführen.

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